Es ist immer schwierig, von weiter her anzureisen, um eine Ausstellung zu eröffnen, deren Gestalt man aus Zeitgründen erst unmittelbar am Ort wahrnehmen kann. Trotz des zahlreichen Materials, das ich dankenswerter Weise im Vorfeld bekommen habe, bleibt ein ungutes Gefühl, das wir gemeinhin schlechtes Gewissen nennen. Dieses im Alltag banalisierte Energiefeld aber, die wahrnehmbare Differenz zwischen Anspruch oder Ideal und Wirklichkeit führt uns wie kein anderes direkt in das Grundthema der Kunst. Diese Differenz, die uns von innen her anzeigt, dass wir einer wie immer konstituierten Situation nicht genügen, zählt zum Geheimnisvollsten unserer Existenz. Der von der Aufklärung behauptete Grund, dieser von uns als Gewissen bezeichnete Bewusstseinszustand sei der diskursiv unter den Menschen erreichten Moralkonvention und der Wahrnehmung der davon abweichenden Handlungen geschuldet, befriedigt uns nicht restlos. Immer bleibt etwas Unaufgelöstes, etwas, wo wir sagen müssen, dass kann nicht allein dem folgenreichen Denken über unsere weltlichen Beziehungen entnommen werden. Dafür benötigen wir noch eine andere Möglichkeit, die uns mit etwas vertraut macht, was dort aktiv ist, wo unser Denken versagt. Keine Angst, ich versuche hier nicht das Wort zum Sonntag zu halten, aber ich behaupte, dass Kunst nach wie vor aus der wahrgenommenen Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit ihren Antrieb erfährt. Wenn der große amerikanische Künstler Bruce Nauman behauptet: Mein Werk entsteht aus der Enttäuschung über die conditio humana, sind wir inmitten dessen, worauf ich anspiele.
Kunst ist eine besondere Denkform, die über die conditio humana handelt, über die Bedingungen des menschlichen Seins. Der Künstler denkt nicht wie die Wissenschaft aus einem spezialisierten, einem bestimmten Ziel ausgelieferten subalternen, sondern aus einem sich selbst überschreitenden, radikalisierten Subjekt heraus, das etwas anstrebt, was, wie Nietzsche sagte, dem Menschen unbestimmt vorausliegt oder wie der heilige Augustinus erschütternd gleichsam unter den Augen Gottes formulierte: ich bin mir selbst zur Frage geworden. Die Frage, was der Mensch ist, ist nicht beantwortet, so oft uns auch Schlagzeilen verkünden, der Mensch sei enträtselt. Die an positivistischer Arroganz leidende Erklärungsgesellschaft hält es nur für eine Sache der Zeit, bis wir alles um uns her restlos aufgeklärt haben. Neulich las ich in der FAZ dass innerhalb von nur drei Tagen am Nordpol eine Eisfläche in der Größe der Bundesrepublik abgeschmolzen ist und das dies durch die diesjährige enorme Sonneneinstrahlung bedingt nichts Ungewöhnliches sei. Dieses euphemistische Herunterspielen von wirklichen Bedrohungen verweist auf die Grundaufgabe unserer hedonistischen Gesellschaft, die sich selbst und ihre Umwelt in einem inzwischen absolut maßlosen Konsum zu verzehren droht. Die Grundaufgabe ist die Bedingungen des menschlichen Seins neu zu bestimmen bzw. neu zu befragen.
Nun werden Sie sagen, jede Gesellschaft hat das immer wieder getan und doch nicht das Schlimmste verhindern können. Das Gesicht unserer heutigen Welt hat sich aber nach der Auflösung der bipolaren Teilung in den 90erJahren stark verändert. Wir leben tatsächlich in einer Welt, deren Schicksal nicht mehr regional diskutiert und entschieden werden kann, wollen wir in ihr tatsächlich überleben. Wir sind auf der Suche nach Werten, die uns einen gangbaren, produktiven Weg zusichern, der Künstler Joseph Beuys hat von Richtkräften gesprochen und die Kunst als einzige Denkform begriffen, aus der dieser Weg beschritten werden kann. Dafür aber und wir kennen diesen utopischen Satz gut genug, müsse jeder Mensch ein Künstler sein, was nichts weiter heißt als das universale Subjekt zu begründen. Beuys knüpfte an die Frühromantik an, denn Novalis formulierte als erster noch im Konjunktiv, jeder Mensch könnte ein Künstler sein. Der Mensch sollte teilhaben an der Universalpoesie, die für Novalis die erstrebenswerte Welthaltung bildete, die sich gegen die einseitige, rationalistische auf das Maß der Antike gerichtete Aufklärung der französischen Revolution wandte. Das universale Subjekt ist gegen das Gesetz jedweder Art frei von jeder Festschreibung, die die vorgegebenen Bedingungen unseres Seins dem Individuum immer wieder auferlegen. Das Individuum wird in seine Bedingtheit hineingeboren, das universale Subjekt sucht sich daraus zu befreien. Noch sind es die Künstler als Ausnahmegestalten und darin liegt ihre hohe Verantwortung, die uns Modelle des Universalismus entwerfen. Am schwersten würde es wiegen, wenn die Kunst darauf verzichtete und sich dem überall herrschenden Monetarismus des Freihandels anschließen würde. Ich bin mir sicher, dass ich in der Ausstellung die wir heute eröffnen Werke und in den Köpfen der Künstler Gedanken finde, die das ursprüngliche Recht der Kunst auf eben jenen Universalismus des Denkens einfordern.
Es geht nicht darum, die weit verbreitete Ideologie des Posthistoire zu sanktionieren, die nichts weiter als eine zynische Idee ist, sondern vielmehr Ursprung und Gegenwart in einem aperspektivischen Denken zusammen zu führen, wie es der Philosoph Jean Gebser schon in den 30er Jahren gefordert hat. Das Aperspektivische ist keine Gegen- oder Antiperspektive, sondern die geistige Gesamtschau von Ursprung, von dem also woher wir kommen, mit der unmittelbaren Gegenwart und ihren Zuständen. Nur so werden wir uns der Tiefe der menschlichen Existenz versichern können.
Immer wieder leuchtete die Forderung nach einem Neuen Denken auf. Die Diskussion darüber ist aber in unserer Zeit bedenklich zurückgegangen. Nicht nur die Künstler, aber auch besonders die Künstler sind aufgefordert, dieses Terrain gegen jede Affirmation und jeden Konformismus wieder zu erobern. Lassen sie mich nun endlich zu dieser Ausstellung kommen, die ich in meinen allgemeinen Worten schon längst berührt habe, ohne jedoch konkret zu werden. Nennen wir nun die Künstler und versuchen in einer kurzen Skizze zu sagen, was ich davon in den beschriebenen Gesamtzusammenhang einbringen kann.
Übergreifend könnte man sagen beschäftigen sich alle fünf Künstler von unterschiedlichen Ansätzen her mit der conditio humana.
Übergreifend könnte man sagen beschäftigen sich alle fünf Künstler von unterschiedlichen Ansätzen her mit der conditio humana.
Katja van Ravenstein versucht mit ihren, ich möchte fast sagen animistischen Skulpturen, der Gesamtheit unserer tief eingelagerten Naturempfindung eine Gestalt zu geben. Ein schwieriges Unterfangen von großer Relevanz, gerade weil diese Erfahrungswelt im Zuge der digitalen Naturentfremdung zu schwinden droht. Dass was sie selbst als Kindheitserfahrung beschreibt, das stundenlange Treiben auf einem Baggersee, um Insekten vor dem Ertrinken zu retten –und jeder von uns könnte ähnliches hinzufügen, gehört nicht mehr zum Erfahrungsschatz der digitalen Generation. Schon richtet sich dieses Defizit gegen den eigenen Körper, dessen Natur man kosmetisch zu überwinden versucht. Viele junge Menschen ekeln sich vor Haaren, vor allen Ausscheidungen, natürlichen Gerüchen, selbst vor Sexualität. Ihr Ziel ist die Wandlung des Leibes in einen artifiziellen, der Natur entzogenen Körper. Katja van Ravenstein führt in ihren Skulpturen die Untrennbarkeit von Tier und Mensch, von Natur und Geist auf eine besondere Weise in den Raum zurück, wobei sie auch das Unheimliche berührt, was Natur, die wir in unserem Konsumismus als Gegner verstehen, uns schon ist. In der banalen Unterhaltung wird das Unheimliche, das Alienhafte der Natur, eigentlich das aus der Entfremdung stammende Gefühl erfolgreich vermarktet. In Katja van Ravensteins Skulpturen wird auch die Frage nach dem uns Unheimlichen Flüchtigen, dem Vergehen gestellt, die große Frage nach dem Tod, der der eigentliche Haushälter unseres Daseins ist.
Peter Nagel legt in seinen Environments, die er oftmals aus vielen Einzelskulpturen zusammengefügt, einen Thementeppich aus, der sich ebenfalls mit den Grundfragen unserer globalisierten Welt kritisch auseinandersetzt. In seinen zum Teil aufwendigen Skulpturen sind Obsessionen, Perversionen, Verschiebungen normativer Regeln ernsthaft oder ironisch betrachtet. Klar arbeitet er heraus, dass der Kapitalismus unserer Zeit eine neue Qualität erreicht hat. Es handelt sich um die einzige Bewegungsform, die universell handelt, die jedes Ding und jede Beziehung nach ihrem Vermarktungswert befragt, alles und jeden in diesem monetären Urteil demütigt. Deutlich sind Tiere bei Peter Nagel nicht nur ein Bild der geschundenen Kreatur, sondern auch Ausdruck absurder menschlicher Dominanz. Als animalische, dem Menschen durch die Evolution nachgeordnete Wesen provozieren sie die Frage nach der sogenannten Hochkultur. Das Rhinozeros ist durch Dürers berühmten Druck seit der Renaissance Emblem des Exotischen und Kunststück zugleich. Nagel erfindet einen Hybrid aus Trophäenschmuck und Kunstgeschichte, deren moderne Großmeister er auf die Oberfläche des Kopfes eines Rhinozerosses appliziert. In bitterer ironischer Ökonomie verbindet er Barbarei und Hochkultur, die in ein und demselben Appartement zur Dekoration verkommen. Der vermögende Kunstsammler als Jäger im doppelten Sinne. Nagel dekliniert in seinen Werken die Abweichung von dem der Wahrheit verpflichtetes Denken. Er verpflichtet sich in seinen kritischen Bildern dem uneingeschränkten Recht auf eine uneingeschränkte Wahrheit des Denkens gegen eine rein materialistische Zwecksetzung und gegen Diskriminierung in jeder Form.
Auch in den abstrakt erscheinenden Skulpturen von Thomas Kühnapfel behauptet sich ein Widerstandspotenzial, was weniger narrativ und unmittelbar eingreift, aber als konsequente Form sich der Natur annähert, uns die geheimnisvolle Kraft der Natur sichtbar werden lässt. Thomas Kühnapfel verbindet die uns als Gegensätze erscheinenden Elemente wie etwa Metall und Luft. Es entstehen Stahlkissen, in denen der Gegensatz zwischen hart und weich aufgehoben scheint. Luft kommt so leicht in das harte Material als sei es tatsächlich aufgeblasen oder der Wind hätte sich hier von selbst eingeschrieben. Kissen können auch die geschmeidige Muskulatur von Tieren, von Pferden nachformen. Sie erzählen in ihrer immer noch abstrakten Gestalt von der Kraft und Dynamik der Bewegung und ihrer materiellen und immateriellen Bedingtheit.
Das Thema von Volker Seinfried führt in seiner Verbindung mit dem Künstlerischen auf die eingangs erwähnte Frühromantik zurück, in der sich die Wissenschaft erstmals nach der Renaissance wieder dicht an die Künste, Philosophie und Theologie anlagerte. Bedeutende Namen aus der Wissenschaft, wie Johann Wilhelm Ritter oder Theodor Gustav Fechner gehörten zu dem Kreis um die Gebrüder Schlegel, Novalis, Schelling, Schleiermacher. Eines der großen Themen, neben der Elektrizität, Galvanismus und Magnetismus war das Phänomen des Sehens und die Funktion des menschlichen Auges. Fechner, einer der erfolgreichsten jungen Physiker seiner Zeit, ist nach Experimenten des so genannten subjektiven Farbensehens, bei dem er stundenlang in die Sonne sah, schwerstens erkrankt. Nach dem einen Wunder gleichenden Heilung, hat Fechner, initiiert durch die Krankheit, über das Seelenleben der Pflanzen und überhaupt über die metaphysische, innere Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt hervorragende Texte verfasst. Ritter, der bis zur Verwahrlosung experimentierte, besonders auch mit Sehversuchen, hat schließlich die Physik als Kunst behauptet. Ich sehe Volker Seinfried direkt in diesem Zusammenhang, obwohl ich sein Werk nicht genügend kenne, scheint er mir an die Romantik anzuknüpfen, natürlich im radikalen Sinne ihrer frühesten Gemeinde. Seine präzisen und zugleich offenen Zeichnungen führen in einen der geheimnisvollsten und zugleich kostbarsten Räume unserer Existenz, des visuellen Austausches mit der Umwelt. Zeichnungen sind Ergebnisse des Sehens und wollen gesehen werden. Unsere Erkenntnisfähigkeit beruht wesentlich auf dem Sehen dessen, was uns umgibt. Es gibt aber auch ein introspektives Sehen, ein Sehen nach innen mit geschlossenen Augen, dessen Bilder uns Seinfried veranschaulicht. Dieses wunderbare Organ Auge findet in der technischen Entwicklung seine Verlängerung, am Kompliziertesten in den Hubbelteleskopen, auf die sich Seinfried namentlich bezieht und die einen Höhepunkt der Optoelektronik bilden und die uns versprechen, eines Tages den Urknall, den Beginn der Schöpfung sehen zu können. Hier wird in extremer Form die Verbindung von Ursprung und Gegenwart, die aperspektivische Sicht auf die Wirklichkeit eines Tages zunächst vor den Augen eines Astrophysikers erscheinen. Es ist folgerichtig, das Volker Seinfried auch dreidimensionale Objekte baut, die sich mit dem Sehen auseinandersetzen, die Sehen modellhaft veranschaulichen.
Maurice van Tellingen möchte es mir nachsehen, wenn ich ihn in meiner Rede, obwohl er eine Einzelausstellung hat, in die Gruppe der eben genannten Künstler aus gutem Grund und sogar am Ende mit einschließe. Er ist thematisch in das eingebunden, was zumindest ich als das allen gemeinsame sehe. Es geht in den Werken aller Künstler der Ausstellung um Erkenntnisfragen, die besonders in seinem Werk gleichsam modellhaft angesprochen werden. Das trompe l’oeil, die täuschend echte Wiederholung der Wirklichkeit, war ein großes philosophisches Thema der alten Kunst, ausschließlich jedoch der Malerei, das schlicht die Frage stellte, was erkenne ich wirklich, was heißt Realität und wer konstituiert die Wahrheit des Wahrgenommenen. Maurice van Tellingen hängt seine plastischen Bilder in traditioneller Weise, aber als Reliefs an die Wand. Natürlich sind es Interieurs unserer Zeit, keine sentimentalen Rückblicke in historische Milieus. Und sie sind nicht täuschend echt, sondern in eigener Regie so verändert, dass die Kälte des emotionslosen Minimalismus auf die moderne Behausungserlösung in zweckdienlichen Einrichtungen von ihnen abstrahlt. Er macht deutlich, was wir alle selbst spüren, was aber die Entfremdung oder Gewöhnung allgemein unserem Bewußtsein entzieht: diese Utopie ist nicht aufgegangen. Vor drei Tagen erfuhr ich, dass eine der wichtigen Universitäten, die Architekten ausbilden, das Zeichnen mit der Hand völlig abgeschafft hat. Alles entsteht von Anfang an ohne die Hand, die nur noch Tasten drückt und die Maus steuert. Das ornamentale Zeichnen aus der Pflanze heraus, das die morphologischen Prozesse des Seins manifestiert, wie es der große Architekt der amerikanischen Architekturmoderne Louis H. Sullivan noch für unumstößlich hielt, ist ohne Not zugunsten einer falschen Effizienz aufgegeben. Diese Erzählung ist vielleicht schon zu viel. Die Räume von Maurice van Tellingen erzählen zwar auch davon und dass der Mensch aus diesen Interieurs verschwindet oder zum Schattenbild wird, er übersetzt aber auch, bei allen wahrnehmbaren kritischen Einwänden gegen die modernen Interieurs und Fassaden, die Sachlichkeit in die subtile Feinheit minimalistischer, sich selbst genügender Materialität der Dinge. Sie sind zwar in ihrer Figuration thematisch, verführen zur sozialen Auseinandersetzung, befrieden aber gleichzeitig jede Art von kritischer Erzählung in der klaren und präzisen Sprache des Materials und der Form. Kurz gesagt, sie sind letztendlich Übersetzungen, die, ein wie immer zu diskutierendes Problem, in das Nichtauflösbare der Kunst überführen. Und darin liegt wiederum die Gemeinsamkeit aller Werke dieser Ausstellung.