Ein Kühlschrank hängt an der Wand. Seine Tür ist leicht geöffnet. Ein schwaches Licht scheint heraus. Es lädt ein, heran zu gehen, sich den miniaturhaften Schrank von Nahem anzusehen, wie er in Sichthöhe in dieser Nische zu stehen scheint, die nur den Ausschnitt einer Zimmerecke darstellt. Die Proportionen geraten fortwährend durcheinander, während man das Objekt doch klar erfasst hat: Perspektivisch gibt es in verkleinertem Masstab nichts anderes wieder als eine beliebige, kahle Ecke in einer Küche, wo der weiße, hohe Kühlschrank steht. Und trotzdem befremdet einen der Ausschnitt, scheint der Boden zu fallen, von weitem zumindest, ragt doch die angedeutete Decke sehr viel kürzer nur in den Raum, sind die Symmetrien verschoben und zeigt sich der Betrachterpunkt erst beim wiederholten Hinsehen.
Die dreidimensionalen Modellinterieurs, die Maurice van Tellingen wie Gemälde an die Wand hängt, versprechen in ihrer Nüchternheit eine Durchschaubarkeit, die nicht aufgeht, so schnell hat man alles gesehen, und bleibt doch erstaunt. So stand ich in seiner Ausstellung in Leuven 2007 vor dem Modell eines Wohnzimmers, mit nicht mehr darin als einem länglichen, niedrigen Wandschrank, an dessen Enden links und rechts sich zwei Lautsprecher befanden, wie sie unpersönlich und vertraut zugleich wirkten, alles in eine leichte Schräge versetzt. Aus ihnen ertönte pathetische Orchestermusik der Wiener Klassik, von Beethoven, glaube ich – die ganze Sehnsucht nach Innerlichkeit, im blassen Ambiente einer staubfreien Wohnung. Wie der Zuhörer im Zimmer sitzt, so steht der Betrachter von diesen Boxen entfernt, bedrängt von einer Emotionalität, die den ganzen Raum beansprucht. Der Bruch durchzieht alle Verhältnisse, nichts stimmt: Noch die Musik zur kaum als solche zu bezeichnenden, sichtbaren Stimmung, noch die eigene Anwesenheit in diesem unwirtlichen Raum.
Als Van Tellingen im selben Jahr an der Klangkunst-Ausstellung Sonambiente in Berlin teilnahm, hörte man im schmalen, alten Treppenhaus der Hochschule für Bildende Künste leise ein Radio spielen, das er auf die Ecke eines Nachttisches gestellt zu haben schien, so glaubte man, in die Perspektive eines Langschläfers zurückversetzt worden zu sein, der von seinem Bett aus hinaufschaut und die Angabe 12:00 auf seinem Radiowecker leuchten sieht, während es taghell ist. Einerseits zwingt der Künstler einen in die berechnete Perspektive, andererseits ist diese Perspektive stets auch die von jemandem, der in seiner eigenen Haut steckt. Es ist diese Überblendung von Gegenstand und den an seine Wahrnehmung noch Glaubenden, die ihn fasziniert, wenn er Kunst ebenso als eine experimentelle Technik versteht wie auch davon spricht, seine Interieurs sollten wie gläserne Kugeln wirken: Dass man glaubt zu sehen, wovon man weiß, man sieht es nicht – und sich die Illusion einer Wirklichkeit einstellt, die stets nur Modell war.
Es sind modernistische Interieurs, die er darstellt, wie sie in Häusern der dreißiger, fünfziger, der siebziger Jahre oder genausogut heute eingerichtet sein könnten. Zudem sind es oft rein auf den Gebrauchswert reduzierte Möblierungen, deren gedämpfte Farben mit einem verschatteten Lichteinfall etwas Zurückgenommenes, Abwesendes, Gehemmtes oder Unterdrücktes anzudeuten scheinen, das Beige eines Jugendzimmers sich mit dem Abendlicht vermengt, die dichtgezogene Gardine sowohl gegen die blendende Sonne schützt wie jede Weite nimmt. Das Leben ist anderswo, diese alte Sehnsucht der Moderne prägt auch jene non-places, Unorte, Durchgangsstationen. Dabei ist dieses Anderswo namenlos, und kennt die Kunst nach Van Tellingen keine andere Bestimmung als Asyl des nicht Benannten, Unbenennbaren zu sein – was dem ein oder anderen Pragmatiker heute vielleicht überkommen erscheinen mag. Der Bildhauer kehrt jedoch das Innere der bloßen Nüchternheit nach außen: Er nutzt den Konstruktivismus gegen dessen soziale Versprechen, in der künstlerischen Reduktion auf jene fremden, kahlen Leerräume, wie sie reihenweise damit entstehen, in Siedlungen und anonymen Straßenzügen.
Wenn eine Figur in seinen Werken auftaucht, dann nur unsichtbar, mit unverständlichen Lauten – wie die eines spielendes Kindes hinter einer angelehnten Tür – oder als Schatten, so wie der Künstler seine eigene Silhouette einmal in das Zimmer eines schuhkartongroßen Appartements projiziert hatte, mit der Installation Shadowman von 1999-2002: Als säße dort eine Person auf einem Stuhl, ein Bein auf dem andern, die hinausblickt, aufsteht, umhergeht, sich wieder setzt. Während der kleine, halboffene Kasten des ‚Appartements’ auf einem Dreibein aus Holz verschraubt war, stand ihm direkt gegenüber, leicht erhöht, der Videoprojektor, als projiziere jemand nicht nur, sondern filme das Ganze, im Fenster zum Hof (womit nur eine mögliche Szenerie gemeint ist, keinesfalls eine Parallele zu Hitchcock, vermeidet Van Tellingen doch eher Spannung, als dass er sie bewusst erzeugt – und generiert so nicht weniger Unbehagen).
Wer den Künstler ärgern möchte, muss nur den ‚Duktus’ eines Malers loben, Rembrandt verehren oder von der ‚Identität eines Künstlers’ sprechen. Jeder Personenkult ist ihm fremd, und Präzision ist ihm lieber als die expressive Geste. Vermeer, Edward Hopper – mit ihnen würde er gern seine Interieurs besprechen, was sie davon hielten, ergäbe sich die Gelegenheit dazu. Was würde wohl Vermeer davon denken, wenn jemand den Widerspruch als Prinzip verteidigen würde, und zugleich nach jener Schönheit strebt, die einen selbst umfängt, als dass man sogleich ihre Risse sieht? Hopper hätte sicher Verständnis dafür – und wäre vielleicht doch irritiert, wie puristisch sein Kollege einen Farbauftrag genießen kann, der aber auch gar keine ‚Handschrift’ verrät. Jeder ist der Widerspruch seiner Zeit, davon zeugt auch Van Tellingen.
Wer seine Werke zuerst abgebildet sehen sollte, der hat tatsächlich nichts von ihnen verstanden, nichts von ihrer sperrigen Anwesenheit, der perspektivischen Provokation mit Blick auf die Betrachterstandpunkte im Raum, der Selbstverständlichkeit ihrer bildlichen Erscheinung, trotz ihrer offen gezeigten, materiellen Konditionen. Ich betone das nur deshalb, weil ihr gemäldeartiger Charakter dazu verleitet, sie auf der Website des Künstlers oder in Katalogen allein als Bilder wahrzunehmen und zu meinen, das Entscheidende dadurch bereits einschätzen zu können.
Als ich nach unserem ersten Gespräch zu ihm in die Wohnung kam, erinnerte nur der alte Kühlschrank in der Ecke an seine Kunst. Ohne mehr als ein Gebrauchsgegenstand zu sein. Es war der Alltag zurück im Alltag, mimetisch variiert durch die Kunst, in der nötigen Differenz zu sich selbst. Ob ich ein Bier möchte, fragte er mich. Und es fiel mir ein, dass ich mich überhaupt nicht gefragt hatte, was wohl in der Tür seines verkleinerten Kühlschranks steckt?